VOR 100 JAHREN: Evakuierung der Insulaner bei Kriegsausbruch 1914

Bericht von Franz Schensky

Der Erste Weltkrieg war auch erster U-Boot-Krieg. Hier: Beschuss eines britischen Fracht­schiffs im Mittelmeer durch das U-Boot SM U 35 im Frühjahr 1917. Foto: Deutsches Bundesarchiv

Der Erste Weltkrieg war auch erster U-Boot-Krieg. Hier: Beschuss eines britischen Fracht­schiffs im Mittelmeer durch das U-Boot SM U 35 im Frühjahr 1917. Foto: Deutsches Bundesarchiv

Sonntag war es, die Tourendampfer mit den vielen Passanten von Hamburg und Bremen waren abgefahren, Ruhe herrschte wieder auf unserer kleinen Insel, als mein Schwager, welcher aus Apenrade einige Tage zum Besuch bei uns weilte, und zu einer Segelpartie einlud. Ein herrlicher Nachmittag! Die Sonne stand schon tief im Westen, als wir mit unserem Boot und dem tüchtigen Schiffer mit seinem wettergebräunten Gesicht, Jacob Hamkens, die Insel umfuhren. Die Brise nahm zu, der Wind drehte mehr nach Westen, der Himmel bewölkte sich. Doch Jacob meinte, das Wetter bleibt gut, die Böe wird sich wieder verziehen. Hamkens ist ein alter Wetterprophet und musste es wissen; er schmunzelte und meinte, der Sommer hat für uns Schiffer einen guten Anfang gemacht, wir haben schon manchen Groschen verdient und wenn die Witterung anhält, dann gibt es eine Saison, wie wir solche lange nicht mehr gehabt haben. Wir ahnten damals noch nicht, was kommen sollte; zwar blieb das befürchtete Unwetter aus, der Himmel wurde wieder klar, aber ein anderes war bereits am politischen Horizont hochgezogen.

Das geht nicht gut, jetzt gibt es Krieg

Unser Boot brachte uns mittlerweile zurück an die Landungsbrücke; hier standen Badegäste und Helgoländer Schiffer dicht gedrängt an der Anschlagstafel. Jacob Dörner trat mit ernstem Gesicht auf uns zu: „Der Thronfolger von Österreich mit seiner Gemahlin ist ermordet; das geht nicht gut, jetzt gibt es Krieg“ sagte Dörner. Die Nachricht kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, unsere schöne Stimmung der Segelpartie war dahin und wenn wir die Meinung von Dörner auch nicht teilten, so sagte sich doch jeder, diese Mordtat hat einen politischen Hintergrund.

Der erste Weltkrieg auf hoher See. Foto: Museum Helgoland

Der erste Weltkrieg auf hoher See. Foto: Museum Helgoland

Es war der 28. Juli 1914. Die Saison nahm weiterhin einen guten Verlauf, das Wetter war dazu wie geschaffen. Helgoland hatte nicht zu klagen und alle Nordseebäder waren mit Gästen überschwärmt. Die ernste Stimmung über den Tod des Thronfolgers hatte sich gelegt, der politische Horizont schien unbewölkt. So nahte der 25. Juli. Zum ersten Male in dieser Saison musste die Dünenfähre ausgesetzt werden, das Wetter hatte sich verändert, südwestliche stürmische Winde und Regenschauer umsausten die Insel. Die Frist des vor einigen Tagen von Österreich an Serbien gestellten Ultimatums zur Sühne des Verbrechens an dem Thronfolger sollte nachmittags ablaufen und alsbald verkündeten Telegramme aus Hamburg: „Serbien lehnt die gestellten Forderungen ab, Österreich hat seine Gesandten aus Belgrad zurückberufen“.

Ich habe damals über die Worte Dörners nachgedacht, jedoch glaubte noch niemand an eine ernste Verwicklung; wie oft hatte es in den letzten Jahren gehießen, es gibt Krieg, warum sollte wegen dieser Angelegenheit, die doch schließlich nur Österreich und Serbien anging, der europäische Frieden gestört werden. Die vielen Badegäste blieben auf der Insel, sogar die Schwarzseher beruhigten sich und als die Stürme nachließen, das Wetter sich aufklarte, war das Badeleben wieder in voller Blüte. Einige Tage darauf wurde die Stimmung ernst, neue Telegramme meldeten: „Russland mobilisiert, Kaiser Wilhelm hat seine Nordlandreise unterbrochen und ist nach Deutschland zurückgekehrt“. Jetzt wurde man unruhig, sollte Jacob Dörner doch wohl Recht bekommen?

2./3. August 1914: Mit den Schiffen COBRA und RUGIA werden alle Zivilpersonen zum Festland in den Umkreis von Altona evakuiert. Bild: Museum Helgoland

2./3. August 1914: Mit den Schiffen COBRA und RUGIA werden alle Zivilpersonen zum Festland in den Umkreis von Altona evakuiert. Bild: Museum Helgoland

Am Donnerstag reisten viele Gäste ab, besonders solche, die weit in Ostpreußen oder Schlesien zu Hause waren. Die Nachrichten vom Festlande lauteten immer düsterer. Nun folgte Schlag auf Schlag. Freitagnachmittag wurde auf Befehl des Kaisers bekannt gegeben, das in Anbetracht der drohenden Kriegsgefahr sämtliche Nicht-Helgoländer die Insel zu verlassen hätten und diese selbst in Kriegszustand gesetzt würde. Frauen der hiesigen Offiziere und der Beamten hatten bereits vorher die Insel verlassen. Auf der Reede lagen die Dampfer „Cobra“ und „Seeadler“ zur Aufnahme der Gäste bereit; die „Königin Luise“ auf der Fahrt nach Hörnum, wurde durch Funkspruch nach Helgoland zurückbeordert. Um sieben Uhr abends fuhr die „Cobra“ vollbesetzt nach Hamburg.

Eine unheimliche Ruhe umgab die Insel

Später ging ich nach dem Oberlande. Eine unheimliche Ruhe umgab die Insel; vor mir ausgebreitet lag das weite Meer, keine Welle regte sich, wolkenlos umrahmt von dem blauen Himmel zeigte sich der klare Horizont. An der Südspitze emsiges Arbeiten der Matrosen an den Geschützen. In der Ferne dampften einige Kreuzer westwärts, Torpedoboote durchfuhren eilend den Nordhafen. Das Feuerschiff „Steingrund“ hatte die Station östlich der Düne verlassen und wurde nach Wilhelmshaven geschleppt. Ich konnte mich kaum fassen und nicht denken, dass nun all das friedliche Leben und Treiben auf der Insel ein Ende haben sollte. Nach Hause gehend, fand ich den sonst so belebten Marcusplatz am Fuße der Treppe leer und verlassen. „Erholung“ und „Märkischer Hof“ waren bereits geschlossen. Kein Lokal durfte nach Bekanntgabe des Kriegszustandes nach 9 Uhr abends geöffnet sein.

Ab September 2014 befinden sich mehr als 4.000 Soldaten auf Helgoland Bild: Museum Helgoland

Ab September 2014 befinden sich mehr als 4.000 Soldaten auf Helgoland
Bild: Museum Helgoland

Am anderen Tage dieselbe anhaltende Spannung. Im Hafen lag eine große Anzahl Torpedoboote, welche in der Nacht eingelaufen waren, mächtige Rauchwolken aus den Schornsteinen hervorstoßend, bereit, jeder Zeit in See zu gehen. Die „Königin Luise“ , welche während der Nacht auf der Reede geankert hatte, wurde früh morgens ohne Passagiere nach Hamburg beordert und gegen Mittag verließ der Dampfer „Kehrwieder“ mit den letzten Badegästen und Angestellten die Insel. Langsam schlichen die Stunden unter Hangen und Bangen dahin; die Ungewissheit war auf die Dauer unerträglich. Endlich, gegen 6 Uhr abends kam die schwere Botschaft: „Es ist soweit!“

Durch Trommelwirbel der Soldaten unter Führung eines Offiziers wurde kurz nach dem bekannt gegeben und ausgerufen: „Seine Majestät der Kaiser hat die Mobilmachung befohlen, alle Helgoländer haben sofort die Insel zu verlassen!“ Ohne Erregung, ruhig und gefasst, wurde die Meldung von den Insulanern entgegen genommen. In den Häusern wurde das Notwendigste, was man tragen konnte, zusammen gepackt, Mundvorrat, wie befohlen, mitgenommen und gegen 8 Uhr versammelte sich die Einwohnerschaft allmählig an der Landungsbrücke. Es war ein tief ergreifendes Bild, wie sich der lange Zug der ausziehenden Helgoländer, Arme und Kranke, Kinder und Greise vom Oberlande ins Unterland bis zum Strand bewegte. Hilfsbedürftige und Schwache wurden von Nachbarn und Anverwandten unterstützt.

1914-18: Befestigungsanlagen an der Nordspitze Bild: Museum Helgoland

1914-18: Befestigungsanlagen an der Nordspitze Bild: Museum Helgoland

Wenn man hin und wieder auch Tränen sah, so zogen die Helgoländer doch wohlgefaßt und mit Gottvertrauen hinaus, sagte ihnen doch der am Brückenkopf stehende landrätliche Hilfsbeamte, sie könnten ruhig fahren, für alles sei vorgesorgt, auf dem Festlande bekämen die Helgoländer es verhältnismäßig besser, als sie es gehabt hätten. Auf der Brücke, auf den Bänken vor dem Kurhaus und am Strande lagerte die Einwohnerschaft, die Ankunft des Dampfers erwartend. Stunde um Stunde verrann, es war bereits dunkel geworden und eine starke Brise aus Südost hatte sich aufgemacht, aber kein Schiff ließ sich sehen. Als dann gegen 11 Uhr immer noch kein Schiff in Sicht kam, verkündete der Polizeidiener: „Die ganze Einwohnerschaft möge sich in die Wohnungen zurück begeben, um einige Stunden auszuruhen, bei Ankunft der Dampfer würde die Abfahrt durch den Ausrufer verkündet werden“.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Viele Oberländer und besonders Kranke und ältere Personen waren im Kurhaus und in einigen Logierhäusern des Unterlandes untergebracht. Beim Morgengrauen schrillte die Glocke des Ausrufers durch die Insel.
Die „Cobra“ und der Auswanderer der HAPAG „Rugia“ waren in der Nacht eingetroffen und ankerten im Nordhafen. Wieder rüsteten sich die Helgoländer zur Abfahrt. Durch genügende Fürsorge ging die Einbootung, welche von den beiden Landungsdampfern der HAPAG und Helgoländer Motorboote ausgeführt wurde, um 5 Uhr vonstatten. Um 8 Uhr war die ganze Einbootung ohne Unfall beendet, wozu das ruhige und besonnene Verhalten nicht zum wenigsten beigetragen hatte.

Zunächst lichtete die „Cobra“ den Anker. Wehmütig klang der Abschiedston der Dampfpfeife zur Insel hinüber, kurz darauf um viertel nach acht ging auch die „Rugia“ in See, Helgoland an der Westseite umfahrend. Friedlich lag die Insel im hellen Sonnenschein und als nun der Rote Felsen zum letzten Male nach seinen Einwohnern hinüber grüßte, da wurde den Helgoländern die Trennungsstunde doch schwer und heimlich feuchtete sich manches Auge. Wie sehr liegt den Insulanern ihre Heimat doch am Herzen! Ob wir Dich wohl wiedersehen? Ob Du standhalten wirst, wenn feindliche Schiffe Dich bedrohen und Ihre Feuerschlünde auf Dich niedersausen?

Erster Weltkrieg 1914-18: Die gesamte Torpedoboot-Flotille im Hafen von Helgoland. Bild: Museum Helgoland

Erster Weltkrieg 1914-18: Die gesamte Torpedoboot-Flotille im Hafen von Helgoland.
Bild: Museum Helgoland

Allmählich verschwand die Insel immer mehr, kaum waren noch die Umrisse der Häuser zu erkennen, nur zwei einzelne Säulen, der Leuchtturm und der Kirchturm, ragten scharf abgegrenzt am Horizont empor. Heute war Sonntag, der 2. August. Jahrhunderte hindurch hatte die Kirchenglocke zum Gottesdienste geladen, heute schwieg sie, die Kirche selbst war heute leer und verlassen, kein Glockengeläute versammelte die Gemeinde. Weiter durchschnitt die „Rugia“ die Wogen. Das erste Feuerschiff passierend, gewahrten wir bald fern am Horizont die Umrisse von Neuwerk. An Bord war bestens für uns gesorgt und ein gut gekochtes Essen stillte bald nach der Seefahrt den hungrigen Magen. Bevor wir die gelegte Minensperre passierten, kam der Lotse an Bord. Von allen Seiten bestürmt, berichtete er die letzten Meldungen. Unglaubliche Nachrichten, von Attentaten und dergleichen, durchschwirrten die Luft. Oberhalb von Cuxhaven begrüßten uns mehrere Torpedoflotillen; eine große Anzahl Frachtdampfer, durchgehend Ausländer, dampften seewärts an uns vorüber. Die „Rugia“ fuhr sehr langsam. Spät nachmittags passierten wir Wittenbergen-Blankenese. Hier stand eine große Menschenmenge, die uns freudig begrüßte.

Endlich, nach langer Fahrt, zwischen 8 und 9 Uhr abends traf unser Schiff in Hamburg ein und machte bei den St.Pauli-Landungsbrücken fest, mehrere Stunden später als die vor uns abgefahrene „Cobra“, jedoch waren sämtliche Helgoländer, die die „Cobra“ zur Überfahrt benutzt hatten, noch auf der Brücke versammelt. Von diesen hörten wir durch Zurufe, dass sie keine Unterkunft gefunden hätten. Eine tiefe, bittere Enttäuschung bemächtigte sich der Einwohnerschaft. Die Behörde hatte in keiner Weise für uns gesorgt. Außer der Direktion der HAPAG war niemand von unserem Kommen unterrichtet. Heimatlos, obdachlos und verlassen betraten wir den festländischen Boden. Nach langem Hin und Her kam man zu dem Beschluss, die Mehrzahl der Einwohnerschaft während der Nacht an Bord der „Rugia“ zu belassen und die Kranken und Schwachen, wenn möglich, im Hafenkrankenhause unterzubringen. Bemittelten wurde freigestellt, sich in die Hotels zu begeben.

Hamburg-Amerika-Linie hat sich ein dauerndes Denkmal
in den Herzen der Helgoländer gesetzt

Auswandererhallen in Hamburg, hier 1907 in ihrer ursprünglichen Funktion. Foto: gemeinfrei

Auswandererhallen in Hamburg, hier 1907 in ihrer ursprünglichen Funktion. Foto: gemeinfrei

Die Männer, Frauen und Kinder, Kranke, Schwache und Greise, die bis dahin alle Strapazen zu tragen wussten, beschlich nun zum ersten Male das Heimatgefühl, hatte man sich doch eine andere, fürsorglichere Behandlung vorgestellt. Wie war es möglich, dass man es nicht für nötig gefunden hatte, Vorbereitungen für unsere Unterkunft zu treffen? Soweit es irgend möglich war, sorgte die Hamburg-Amerika-Linie für die ersten Stunden. Den Frauen und Kindern wurde Milch gereicht und später erhielt ein jeder sein Abendbrot. Nicht so gut ging es den Kranken und Schwachen. Im Hafenkrankenhaus zögerte man mit der Aufnahme, da es an Raum mangelte.

Manches Auge irrte in der Nacht ruhelos umher; bei den meisten war nicht an Schlaf zu denken und kaum war die Nacht entflohen, eilten bange Gesichter an den Landungs­brücken umher, ängstlich fragend, was wird aus uns werden, wie wird es uns ergehen? Die zweite Nacht verbrachten die meisten unserer Einwohner in den Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie1, andere wurden in den Elbgemeinden einquartiert. In den Auswandererhallen hatte die Hamburg-Amerika-Linie wieder bestens für die Helgoländer gesorgt, hier wurden sie mit Mittagessen und Abendbrot unentgeltlich verpflegt. Die H.A.L. hat sich damit ein dauerndes Denkmal in den Herzen der Helgoländer gesetzt. Am folgenden Tage wurden auch diese Einwohner in dem Kreise Pinneberg und in der Stadt Altona einquartiert.

(Gestaltung/Zwischenüberschriften: Andreas Bubrowski, Erich-Nummel Krüss)

  1. kurz: H.A.L., auf Englisch: Hamburg-American Steamship Line

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